Der Bub und der Hai

[04-2018 / German / 1850 words]

„Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass da ein Bub ist, der alleine im Meer schwimmt – vor der Küste, in der Dunkelheit?“

Es ist eine kantige Frauenstimme, die da aus dem Off redet. Ich liege in warmer Flüssigkeit und höre zu.

„Und dass dieser Bub Hunger hat und deshalb nach Hause zurückschwimmt. Oder findest du das langweilig?“

Leise Geräusche umfangen mich: Ich höre Zzssska-zzsska-dummm-Zssska-Zzsska-dummm. Ich höre Tak-tak-tak-tak-drrrrrr-tak. Ich höre Zssssrrrrrr. Ich schlage meine Augenlider auf, zwinge sie dazu. Es sind zwei gefühllose Lappen Fleisch. Beißendes Wasser dringt ein, sofort schließe ich sie wieder.

„Du kannst mir vertrauen, es ist eine gute Geschichte.“

Die Dunkelheit vor meinen Augen verschwindet und ich sehe einen Strich, der dunkles Meer von dunklem Himmel abgrenzt. Das Summen um mich herum wird leiser und verschwindet, in der Ferne höre ich rauschende Brandung. Ein kleiner Schatten treibt im Wasser.

„Gut so, lass dich fallen und hör mir zu.“

Der Bub schwimmt im Meer und sieht eine Qualle. Seine Lippen sind gerissen, die Hände schrumpelig, die Augen tiefschwarz. Es ist eine sehr lange Qualle; von ihrem glockenartigen Körper hängen feine Fäden weit hinunter. Sie pulsiert und leuchtet. Lang, lang, kurz, lang - oder irgendwie so. Jedenfalls blinkt sie ein Signal – eine Frage, die sie einmal aufgeschnappt hat:

„Was ist kalt, zart und schwebt; und hat keinen Atem, obwohl es lebt?“

Plötzlich ein lautes Plumpsen, Wasser schießt hoch. Hinter den Tropfen, die wie warmer Regen herunterfallen, erscheint ein Hai. Er ist groß und aus seinen Kiemen fließt Heringsgeruch.

„Hi“, sagt der Hai.

„Hallo“, sagt der Bub.

Der Bub sagt, dass er nach Hause möchte; Abendessen. Aber der Hai lässt ihn nicht entkommen. Er wirft ihm eine Makrele zu, zappelnd und frisch. Ein Vogel zieht interessiert an ihnen vorbei. Eine Möwe?

Der Hai lässt den Buben auf seinem Rücken reiten, der rau ist wie Schleifpapier. Es ist ein Bild wie aus einem Werbeprospekt. Sie brauchen drei Tage und drei Nächte, die der Hai mit Reimen verbringt. Duschtasse. Arische Rasse. Bahntrasse. Erste Klasse.

Der Bub klammert sich an ihn, die Beine aufgeschürft und brennend vom Meerwasser; die linke Hand an der Flosse, die Rechte über den Augen, um sie vor der Sonne zu schützen. Hin und wieder wirft der Hai ihm einen Fisch zu, den der Bub gierig auspresst – durstig, auf der Suche nach Süßwasser.

Schließlich kommen sie an. Das Riff liegt nur dreißig Zentimeter unter Wasser. Der Bub, steif und müde, springt runter vom Hairücken. Mit blutigen Knien macht er ein paar wacklige Schritte. Auf dem Riff liegt ein gestrandetes U-Boot. Es ist ziemlich groß und rostig.

Ein Dutzend Krabben lungert in einem algigen Spalt herum. „Was passiert wohl, wenn jemand den Horizont umdreht?“, fragt sich eine und inhaliert einen Schwall Salzwasser. Durch winzige Nüstern stäubt die Krabbe es wieder heraus. Die Blasen kringeln sich um ihre Augen und geben ihr einen verträumten Ausdruck.

Plötzlich bricht die Erzählstimme ab. In meinem Kopf geht die Sonne unter. Eine Rückkopplung dröhnt mir in den Ohren und mir wird übel.

„Was ist los?“ fragt ein Mann in hohem Tonfall.

„Was soll schon los sein?“ Die antwortende Stimme klingt müde und zieht die Vokale. „Das scheiß Modul ist buggy, das ist los.“

Gefühl kehrt in meine Hände zurück und ich zucke mit den Fingern.

„Einmal probieren wirs noch. Haben wir audio?“

„Audio und visuals sind beide aktiv. Aber das ist jetzt wirklich der letzte try würd ich sagen.“

„Du hast da gar nichts zu entscheiden. Wenn alles ready ist, dann start den reboot.“

„... go.“

Eine Käsereibe kratzt mir über die Schläfen, raspelt Haut. Die Lichter kommen wieder und zucken hinter meinen Augenlappen. Ich höre: Bubbub-Bubbub-bubbub. Ich liege im Magen einer Kuh und ziehe an fleischigen Tentakeln, die da hängen und mich langsam verdauen. Ich sehe orange Schneeflocken; kleine Windräder, die um größere Windräder rotieren. Grüne Flecken formieren sich in der Bildmitte und breiten sich zum Rand aus.

„Weißt du noch, wo wir stehengeblieben sind?“, fragt die Frauenstimme. „Wir waren beim U-Boot, stimmts?“

Die Farben ordnen sich, die Sonne geht wieder auf.

Der Hai liegt am Riffrand und schlägt ungeduldig mit der Hinterflosse gegen eine Muschelbank. „Ich will, dass du mir ein Buch da rausholst!“, schnauft er dem Buben zu. Seine Stimme ist tief und braucht lange, um aus dem großen Körper aufzusteigen. „Aber bitte ein foliertes.“ Dann bringt er ihn wieder nach Hause, sagt er, zur Buben-Mama, die ihm Kartoffelknödel kocht – oder was auch immer.

Der Bub geht also zum U-Boot und die Krabben verkriechen sich in ihre Ritzen. Ein Büschel von Anemonen ist über die Zugangsluke geschmiert. Der Bub reißt sie weg und dreht an der Türe. Drinnen ist es dunkel, bis auf ein leichtes Glühen. Grünlich? In der radioaktiv verseuchten Büchse ist es warm, fast schon zu warm. Ein mumifizierter Matrose sitzt am staubigen Boden, gegen eine Wand gelehnt. Die kleine Maus in seiner rechten Hand nagt an trockenem Zeigefingerfleisch. Beim Fressen zuckt sie aufgeregt herum, das Morsegerät in der Matrosenhand morst. „Was ist nackt, so nackt dass es knackt?“, fragt das Gerät in die Welt hinaus.

Die Frauenstimme macht eine Pause.

„Ich könnte jetzt noch weiter erzählen“, sagt sie. „Wie der Bub das russische Code-Buch aus dem Reaktorraum geborgen hat; oder wie er beladen mit dem geplünderten Goldschatz eines indigenen Volkes aus dem U-Boot gekommen ist. Wie er an der Riffkante ankommt und der Hai nicht zu sehen ist – dafür aber ein Forschungsboot rasant näherkommt, das ihn einfangen und befragen möchte.“

„Es ist auch eine moralische Komponente enthalten, als der Hai ein paar Hundert Meter entfernt schließlich doch noch auftaucht – und der Bub beim Schwimmen zum Hai das ganze schwere Gold Stück für Stück fallen lassen muss, um nicht selbst unterzugehen. Und als er schließlich beim Hai ist und verlangt, dass der ihn heimbringen soll, hat der Bub nur noch einen einzigen Ring.“

„Aber du weißt ja, wie das so ist mit Haien und Buben“, sagt die Frauenstimme.

Eine Lücke in der Geschichte. Ich zucke mit den Fingern.

„Oder etwa nicht?“

Der strahlenkranke Bub ist beim Hai angekommen und tritt im Wasser - das Forschungsschiff dicht hinter ihm, das Code-Buch in der linken Hand, der Goldschmuck am Meeresboden. Müde übergibt er sich, wischt sich mit aufgequollenen Fingern die Kotze vom Kinn.

Der Hai macht den Mund auf, schwimmt ein paar Flossenschläge nach vorne und beißt dem Buben das rechte Bein ab. Es knirscht und dann reißt etwas: ein Stumpf, aus dem es blutet. Der Bub schreit, wimmert und wird dann ohnmächtig. Er verschwindet im Meer; Blasen steigen auf. Der Hai taucht unter, das Bild dunkelt sich ab. Ein Fleischfetzen dümpelt im Wasser und wird von der Strömung herumgeschaukelt, bis eine hungrige Riffkrabbe die Chance ergreift.

Die Erzählstimme scheint zu überlegen. „Würdest du mir abnehmen, dass dem Buben Kiemen wachsen?“, fragt sie mich.

Ich beginne, meinen Körper wieder zu spüren und taste neben mich, über mich. Meine Finger stoßen überall an Wände. Ich liege in einem Sarg mit abgerundeten Ecken.

„... aber nein, es ist anders!“, sagt die Frauenstimme dramatisch und fährt mit der Geschichte fort.

Ein Büschel Leuchtmoos aus dem U-Boot ist durch Kontakt mit Meerwasser rasant gewachsen. Es schlängelt sich um den heilen Fuß des Buben, über seine Brustwarzen hin zu seinem Mund, wo es das H2O auf der Suche nach O filtert. Die Gravitation lässt ihn sanft hinunterfallen und der Hai muss ihn nur hin und wieder anstupsen, um den leblosen Körper in die richtige Richtung treiben zu lassen. Irgendwann dringt kein Licht mehr von oben durch und schwarze Schwaden wabern aus Erdspalten. Beinahe fällt der Bub in einen der offenen Kamine.

Meine Zehennägel prickeln. Ich konzentriere mich auf meinen Körper und trete gegen die Wand. Meine Beine bewegen sich nur zäh und ohne Kraft.

„Was ist denn los?“, fragt die Frauenstimme. „Langweilst du dich?“

Der Bub wacht an einem beleuchteten Ort auf. In der Höhle vom Hai, sehr geräumig, liegt eine Buchsammlung ausgebreitet. In den Wänden sind Löcher, kleine Sub-Höhlen, in denen fleißige Fische wohnen, die die Sammlung regelmäßig entalgen. An vielen Stellen ist das folierte Plastik aber trotzdem schon fleckig geworden.

Der Hai würgt das Bein wieder heraus, das sich im salzigen Magen gut erhalten hat. Doch in der Höhle gibt es keine einzige Nadel, mit der der Bub es wieder annähen könnte. Er baut sich also eine genaue Abbildung aus einem Schwefelzapfen, mit allen Zehen am richtigen Platz; sogar die beginnende Schenkelbehaarung modelliert er detailverliebt. Durch Oxidation wächst das künstliche Bein im Lauf der nächsten eineinhalb Jahre dann mit dem kalziumhaltigen Unterschenkelknochen zusammen.

Meine Hände tasten weiter und fühlen biegsame Röhren. Es sind Schläuche - sie stecken in meiner Nase, in meinem Mund. Ich möchte schreien und schlucke Wasser.

„Hör doch noch eine Weile zu. Es ist gerade so spannend!“

Eine Brise zieht über das Meer und der alte Bub schaut vom Dach seiner Prothesenfabrik versonnen auf das Fischerdorf, das mittlerweile geprägt ist von den vielen Prothesen-Zulieferbetrieben, die emsig an Prothesenteilen arbeiten.

Ein Seeigel erwacht in meinem Bauch; von innen fühle ich ihn gegen meine Haut drücken, sehe Stacheln aus meinem Nabel kommen. Mit der Linken befühle ich meinen Körper. Als ich meinen Schwanz streife, zieht er sich zusammen. Eine Röhre ist hineingerammt.

„Du errätst nie, was passiert! Ich verspreche dir, die Geschichte ist voller Wendungen!“

Der alte Bub blickt hinunter vom Fabrikdach, auf ein gegenüberliegendes Hausfenster ohne Vorhänge. Er sieht einen jungen Buben, der sein T-Shirt auszieht und über dem Kopf herumschwenkt – und ein Mädchen, das gedankenverloren vor ihm sitzt und Pizza isst. Sie schaut aus dem Fenster und bemerkt den alten Buben. Beiläufig schnipst sie eine Olive auf den Teppichboden und schiebt sich ein Stück Pizza in den feuchten Mund.

Ich reiße mir die Schläuche aus dem Körper.

Etwas hebt mich hoch, legt mich woanders hin. Ich schnappe Luft. Meine Lunge drängt durch die Rippen nach oben wie ein Kastenteufel.

Borstige Haare kratzen mich auf der Brust. Es ist Fell. Ein Affe sitzt da, schaut mich ruhig an. Auf seiner Stirn ein drittes Auge, ganz weiß. Ein transparentes Augenlid gleitet zurück, gibt den Blick frei auf ein Kaleidoskop aus Kaleidoskopen. Das Auge wird blendend hell - ein Scheinwerfer, um einen Kopf geschnallt.

„Schaut nicht so gut aus“, sagt der Affenkopf mit hoher Stimme.

Neben ihm ein zweites Licht. „Ich hab ja gesagt es wird nichts.“ Die müde Stimme wird aufgekratzt. „Wobei, das story-log ist echt ziemlich sicker shit. Ein echtes highlight.“

Der Affenkopf verändert seine Züge. Das Fell verschwindet und glatte Haut wird sichtbar. Es ist ein Asiate mit langem schwarzem Haar, den Mundschutz an einer Kugelkette um den Hals baumelnd.

„Ich bin froh, dass ich sowas nicht träume“, sagt er und schaut mir in die Augen. Ich möchte die Hände heben, mich bewegen. Ich bin zu schwach.

„Naja, es hilft alles nichts. Das Modul ist wohl beschädigt.“

Das zweite Licht kommt näher. „Das heißt wir können endlich drauf scheißen?“

„Du freust dich wohl drauf?“ Der Asiate wendet sich ab. „Na los, start den abort.“

Der alte Bub schaut dem Mädchen in die Augen, sieht sie Pizza kauen, sieht den jungen Buben tanzen. Er wendet sich ab und zündet sich eine Zigarre an. Ein Vogel zieht über ihn hinweg.

Eine Möwe?