Goodiebag

[02-2018 / German / 2193 words]

Im gut beleuchteten Raum kann man einen Mann erkennen, der ein Firmen-T-Shirt trägt – eines dieser T-Shirts, die dich als Angehörigen einer niedrigeren Kaste erkennbar machen. Damit es jeder versteht, steht da in cleaner Schrift IT-Support. Um den Hals hat der Mann ein Band mit einem PVC-Schild mit einem schlecht aufgenommenen Foto drauf, inklusive Name und Abteilung. Das Schild hängt ihm über den Rücken, weil er es nach hinten geschwungen hat; so baumelt es ihm beim Arbeiten nicht über den Händen. Er steht neben einem Bildschirm, der auf einem Rollschreibtisch steht, der von der Wand weggerollt wurde. Es ist eine Gipskartonwand. Der Mann arbeitet langsam an seinem typischen IT-Support-Problem, es hat etwas mit Kabeln zu tun – und mit Inkompatibilität.

Auf dem Rollschreibtisch liegt ein bisschen Papier und ein Goodiebag mit einem Logo, das der Mann nicht kennt. Auf seinem Namensschild steht Timo, nur dass ihr es wisst. Das Goodiebag besteht aus einem Plastiksack, der in einem billigen, aber unglaublich komplexen outsourcing-Prozess hergestellt wurde, unter anderem beeinflusst vom Weltmarktpreis für schwefelhaltiges Schweröl und von stets steigenden Güterschiffkapazitäten. Das Plastik ist mitteldick und hat einen matten Glanz; in ihm versenkt sind Ösen aus manganhaltigem Dumpingstahl, die feine beige Schnürchen fransenfrei am Plastik vorbeigleiten lassen. Zwei Schnüre, vier Ösen, Trageriemen also. Im Goodiebag ist ein bisschen Informationsmaterial und Saft, merkt Timo. Ansonsten steht auf dem Schreibtisch noch ein Bild, auf dem Menschen abgebildet sind, darüber hängt ein Poster.

Das gerahmte Foto zeigt einen kurios lachenden Mann mit 5-Tage-Bart und schlechten Zähnen, der ein Glas mit Sekt oder einer anderen perlenden Flüssigkeit hält (das Foto ist schwarz-weiß) und von Leuten umringt ist. Es ist eine Party oder so. Mit der freien Hand greift der Mann einer Frau auf die von ihrem Kleid keck entblößte Schulter – es sieht so aus als ob er sie antippt, aber vielleicht möchte er sie auch wegstoßen, das ist nicht so gut zu erkennen. Auf der Rückseite steht eine Botschaft mit blauem Füller. „Für meinen Liebling Irma“ steht da geschrieben. Timo stellt das Bild an die Stelle wo es vorher gestanden ist, unter das blau-grün gestaltete Poster mit der Weltkugel, die halb gesund aussieht und halb verdorrt, über der in einer modernen, sleeken Schrift „paperless office“ steht. Er hört Schritte am Gang, die durch die mit Sandstrahlern aufgeraute Glastür dringen. Er steht vom ledernen Bürosessel auf und stellt sich neben den Tisch, um weiter an den Kabeln herumzufummeln. Sein Schild fällt ihm von der rechten Schulter herunter und pendelt leise klickend gegen den Bildschirm.

Durch das Fenster der Einzelbüro-Koje, die Timo noch für weitere 37min bearbeiten darf – wenn er länger braucht, verfärbt sich sein Leistungsindikator (der die Anzahl erledigter Tasks pro Zeit misst und anhand der durchschnittlichen Taskbearbeitungsdauer der IT-Support-Abteilung rankt) in der Exceltabelle seines Chefs von gelbgrün zu gelb – durch dieses Fenster jedenfalls sieht Timo ein helles Büro im Nebengebäude. Die Gebäude stehen beklemmend nahe aneinander. Zwischen den mehr oder weniger gegenüberliegenden Fenstern fällt ein nieseliger Januarregen, der vom brutalen Fallwind mal hin und mal her geweht wird. Es sprüht wie Gischt auf einem Binnensee bei einem mittelmäßig wilden Segeltag. Die Frau hinter dem Wasserschleier ist brünett und schaut ziemlich entschlossen aus. Es sind nur circa 10 Meter zwischen ihm und ihr, oder vielleicht auch nur 8, so genau kann er das nicht sagen. Der Raum mit der Frau drin liegt ein bisschen unterhalb von ihm, so dass Timo ihr ins Dekolleté schauen könnte, wenn sie es zeigen würde. Sie hat aber einen grauen Pulli an. An der vom Fenster abgewandten Seite sieht er ein halbleeres Bücherregal stehen. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Teller mit brauner Substanz, in den sie regelmäßig hineingreift, kleine Stückchen der Masse mit ihren Händen bearbeitet und diese dann in den Mund führt. Es handelt sich um Erdnüsse. Im Raum steht auch ein Drucker und so Zeugs.

Während sie richtig im flow ist, mit zusammengekniffenen Augen auf ihren Bildschirm starrend, nur hin und wieder Erdnüsse knackend oder an der Nase kratzend, ansonsten die eine Hand auf der Maus, die andere auf der beschichteten Tischplatte ruhend, zuckt die Frau plötzlich zusammen. Sie greift nach ihrem Smartphone, das auf dem Tisch liegt. Einige Sekunden tippt sie mit ihren lackierten Daumen auf dem Display herum, dann schaut sie wieder auf den großen Bildschirm vor ihr. Wenn ihr euch Timos Gesicht anschaut, wie er da schon für 12min am Fenster steht, entwickelt ihr vielleicht eine Ahnung, an was er denkt. Es ist natürlich Sex. Er stellt sich vor, wie er in dem Büro stehen könnte, ohne Hose und sie liegt auf dem Tisch und er hinter ihr. Und bei ihrem Gesicht steht sein eineiiger Zwillingsbruder, der ihr seinen Schwanz hineinsteckt. Und sie saugt und saugt und sein Bruder stöhnt. Und Timo selbst hinunterschauend auf ihren Arsch, der vor ihm liegt, zwei Backen die unter dem Pullover hervorschauen wie ein doppelter, ineinander übergehender Sonnenaufgang. Und er wird sie massieren und ein bisschen klapsen und ihr dann seinen reinschieben.

Die sandgestrahlte Tür hinter ihm klickt, ohne dass er vorher Schritte gehört hat. Timo dreht sich schnell um. Er achtet zu sehr darauf, sein Gesicht zu glätten und nicht schuldig oder irgendwie anders auszusehen, als dass er auch die Präsenz des Rollschreibtischs neben sich wahrnehmen würde. Timo stößt also leicht an und die minimale Erschütterung reicht aus, um das Bild mit dem alten Mann und dem Sektglas, das dort mit einem miserabel schlechten, klappbaren Filzstellfüßchen platziert wurde, vom Tisch herunterfallen zu lassen. Das Bild kommt genau dann klirrend auf dem Resopalboden auf, als die Türe aufschwingt. Im Türrahmen steht sein Klon, seine andere Hälfte, sein getreues Abbild: ein grinsender Mann mit IT-Support-T-Shirt, identischer Langhaarfrisur und um den Hals baumelndem Namensschild, auf dem Thomas steht. Nachdem also Thomas die Tür hinter sich geschlossen hat und gerade so weit in den Raum getreten ist, als dass sein Schatten vom Gang her nicht mehr durch das diffuse, lichtstreuende Rauglas erkennbar ist, lässt er sein Lächeln ausgehen. Die Lippen schnurren zu einem blassen Strich zusammen.

Timo fordert seinen Bruder, den er Tommy nennt, in knappen Worten zum Erzählen auf. Der andere Mann, der sich von ihm nur durch die Schuhfarbe und eine entzündete Stelle am linken Ohr unterscheidet, teilt ihm in einer viel zu langen Wortkolonne mit, dass er hier sei um ihm zu helfen, offiziell um ihn im Support zu supporten, inoffiziell um ihn, seinen einzigen Bruder, selbst um Support zu bitten. Timo denkt an das letzte Mal, als sie zusammen in der Arbeit in einem Raum gewesen waren. Die meisten Mitarbeiter des Hauses fanden die beiden Brüder ziemlich unheimlich, wenn sie zusammenstanden und ihre scheinbar distinkte Identität sich duplizierte. Die Meisten wussten allerdings gar nichts von der Doppelung, da der IT-Support ohnehin aus Effizienzgründen vorzugsweise in Ein-Personen-Teams operiert. Ein Trader aus der Trading-Abteilung, die direkt in der Etage unter der Geschäftsführung liegt, hatte jedenfalls sicher nichts davon gewusst. Timo und Tommy waren in sein Büro getreten und er war über seinem Keyboard kollabiert.

Der Mann mit gegelten Haaren, ganztags offenem Hosenlatz und kokainzuckendem Nasenflügel war seither in der IT-Support-Abteilung nicht einfach nur bekannt, sondern hatte den Zustand großer, wenn auch zweifelhafter Prominenz erreicht, der nur wenigen vorbehalten ist und praktisch bedeutet, dass sämtliche Praktikanten und Praktikantinnen am ersten Tag neben der allgemeinen Einführung auch in dieses soziale Phänomen eingewiesen werden, um verschiedensten Arten von gerichtlichen und außergerichtlichen Einigungen quasi präventiv aus dem Weg zu gehen. Es war zwar nur ein harmloser Schwächeanfall gewesen, der rein auf Überarbeitung zurückzuführen war, wie der Hausarzt bestätigte. Leider aber ein Anfall mit sehr, sehr schlechtem Timing. T. & T. jedenfalls, ich erlaube mir die Freiheit, hatten gerade die Tür geöffnet, mit Kabelschlingen und piepsenden Voltmetern bewaffnet, um das erste der drei vom Trader in 2min-Abständen gelösten Support-Tickets fachkundig zu bearbeiten, während ihr Klient eines von diesen hochriskanten Derivatgeschäften laufen hatte, das auf die Veränderung des Drei-Jahres-Basiswerts für Schweinebauchhälften mit zehnfachem Hebel spekulierte, was unter uns gesagt ein völliger Wahnsinn ist, weil es gibt kaum etwas so volatiles wie Schweine, es heißt schließlich nicht ohne Grund Schweinezyklus. Timo hatte vor Schreck sein Voltmeter und jegliche Hoffnung fallen lassen, als die flatternde Nase des Traders zusammen mit dem dazugehörigen Kopf in die bunt codierte Tastatur des Bloomberg-Terminals gekracht war. Später sollte sich herausstellen, dass die Tastenkombination eine für das Haus sehr unvorteilhafte Marktstrategie in Gang gesetzt hatte, die den interessanten kulinarischen Nebeneffekt hatte, dass für die nächsten Jahre zu jeder Tageszeit mindestens eines der Menüs in der Kantine auf die eine oder andere Art auf – erraten – Schweinefleisch beruhte.

Die laute Frage von Tommy schneidet in Timos Hirnrinde und reißt ihn zurück in die gegenwärtige Bürokoje. Auch ein weniger sensibler Mensch als Timo kann spüren, wie Tommies Stimme vor Aufregung vibriert. Hörst du überhaupt zu, fragt der den an die Gipskartonwand gelehnten Timo. Es ist mindestens so schlimm wie damals im Mai, wenn nicht schlimmer, presst Tommy hervor und fährt mit einer Hand schwach durch die trockene Büroluft. Unter seinem IT-Support-T-Shirt wölbt sich ein magerer Brustkorb. Aber diesmal bin wirklich nur ich schuld. Tommy weint. Timo denkt darüber nach, warum er für ein Problem, das ihn nicht betrifft, derjenige sein soll, der es löst. Es gehört zur diffizilen Dynamik von Bruderbeziehungen, dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten ist. Ich möchte es nicht unnötig dehnen an dieser Stelle, die beiden Brüder jedenfalls waren sich wie immer auch diesmal schnell einig. Letztes Mal war es schließlich allein Tommy gewesen, der durch seinen Besuch bei Esther, einer langjährigen Freundin ihrer Mutter (Gott habe sie selig) die drohende Kernschmelze von T. & T.s Beschäftigungsstatus verhindert hatte. Tommy war bei ihr gesessen, seiner und Timos Wahltante, die sich doch immer schon ein bis zwei Söhne gewünscht hatte. Als sie zusammen Kaffee und Esterházytorte konsumiert hatten, brauchte Tommy nur kurz ihr Problem mit dem bewusstlosen Broker erwähnen und Esther hatte das in ihrer Eigenschaft als Putzfrau und Muschikatze von T. und T.s Chefin wieder ins Lot gebracht. Zumindest hatte Tommy ihm das so erzählt.

Gekleidet in die dunkelblaue Winterjacke und die roten Schuhe seines Bruders, verlässt Timo die Eingangslobby und betritt den von mörderischen Fallwinden gebeutelten Vorplatz des Gebäudes, während Tommy im behaglich warmen Büro an Kabeln herumfummeln darf. Das Goodybag lässig über die Schulter geschwungen, überquert Timo den schmalen, aber sehr langen Platz in einer spitzen Hypotenuse. Vor ihm in der dämmrig-diesigen Dunkelheit taucht eine Gestalt auf, die reglos in der Mitte der ausgestorbenen Freifläche steht. In seiner hypotonischen Bahn geht er direkt auf sie zu. Die Gestalt hat eine Strickmütze auf. Eine widerspenstige blonde Haarsträhne lugt darunter hervor und deutet in die Dunkelheit drei Meter neben ihm. Als Timo die junge Frau passiert, streckt sie ihre Rechte mit einer ruckartigen Bewegung in seine Richtung. Instinktiv greift er nach dem grünen Zettel, den ihr Wollhandschuh ihm hinstreckt. Vorne ist eine Adresse aufgedruckt. Timo dreht den Zettel um. Auf der Rückseite schreien große, schwarze Buchstaben DONNERSTAG LONGDRINKS 19-20 UHR GRATIS. Hinter GRATIS steht ein kleiner Stern, der auf den unteren Rand des Zettels verweist. Es ist natürlich nur ein Longdrink pro Person gratis. Timo blickt sich um und geht dann zur U-Bahn.

Der Bahnsteig ist ziemlich leer. Bis auf einen frierenden Obdachlosen, der neben einem Einkaufswagen hockt – randvoll mit Plastiksäcken voller Altkleidung – und einem Jugendlichen mit Dr.Dre-Kopfhörern ist niemand zu sehen. Es dauert noch 3min, bis der nächste Zug kommt und Timo setzt sich erschöpft hin. Er checkt sein Smartphone – Esther hat ihm schon zurückgeschrieben, dass sie sich über den kurzfristigen Besuch freut – als die LED-Beleuchtung der Station sich um eine Schattierung verdunkelt. Der Obdachlose steht auf einmal zwischen Timo und dem Licht. Er hat einen zotteligen Bart und stinkt. Der Dr.Dre-Jugendliche ist verschwunden, dafür nähert sich ein Mann mit Cro-Magnon-Gesicht, mit massiven Stirnwülsten und allem Drum und Dran. Timo möchte aufstehen, tut sich aber schwer dabei, weil der Zottelbart-Mann direkt vor seinen Schienbeinen steht und Timo ihm nicht zu nahe kommen möchte. Blau angelaufene, ädrige Finger zerren am Goodiebag, das er vorher mitgehen hatte lassen, er weiß eigentlich nicht warum – also weder warum er es mitgenommen hatte, noch warum der sozial deprivierte Mann dasselbe Bedürfnis nach dem bag oder den darin enthaltenen goodies hat.

Man kann sehen, wie Timos Körper schon im Begriff ist nachzugeben, als er sich plötzlich doch strafft. Warum? Ich weiß es nicht. Beide zerren also am Goodiebag, Timo ist mittlerweile doch aufgestanden. Der Cro-Magnon-Mann kommt dazu und grinst undurchdringlich. Zwei Überwachungskameras haben die Szene voll im Fokus, aber nichts geschieht. Im sehnigen Körper des IT-Support-Bediensteten straffen sich alle Fasern und er gibt ein lautes Grunzen von sich. Die Obdachlosen brabbeln etwas, das er nicht versteht. Der Cro-Magnon-Mann möchte ihn von hinten packen, Timo sieht seine Hände aus dem Augenwinkel näherkommen und weicht aus. Timo gibt ihm einen Stoß mit der linken Schulter, der den Mann aus dem Gleichgewicht bringt. Der Mann torkelt, stolpert, fällt. Er liegt auf den Schienen und blutet. Der Tunneleingang vibriert, dröhnt, erleuchtet sich. Der andere Obdachlose lässt das Goodiebag los, dessen Mattplastik sich wieder entspannt, und verschwindet um die Kurve. Aus dem laschen bag fällt eine glänzende Informationsbroschüre und ein Päckchen Saft. Timo setzt sich im Schneidersitz auf die U-Bahnfliesen und steckt den eingeschweißten Einwegstrohhalm in die 0,2l-Packung. Mit einem Knirschen überfährt die U-Bahn den Mann auf dem Gleis. Ananasgeschmack.